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Ein Kunstprojekt im öffentlichen Raum von Pia Lanzinger




»Ich lege den Grundstein für den jüngsten Stadtteil unserer Münchener Stadt. Möge er seinen künftigen Bewohnern zur Heimat, zum Mittelpunkt eines erfüllten Lebens und zur Stätte des Friedens werden.«

         – Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, 25. Mai 1960
 

Prolog

Am 25. Mai 1960 hält Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel die Rede zur Grundsteinlegung des Hasenbergls. Er betont den beispielhaften Charakter der Siedlung und legt mit dem Segen von Domkapitular Monsignore Anton Maier eine Zeitkapsel mit Zeitzeugnissen in einen hohlen Grundstein. Da der Rohbau teilweise schon steht, ist Eile geboten, weshalb der Grundstein nicht wie üblich in die Fundamente eines der Gebäude, sondern in einen Sockel eingemauert wird, der bald danach die Pferdeskulptur des Bildhauers Alexander Fischer tragen wird. 50 Jahre später, nach dem Abriss des Postamts und der Verlegung der Pferdeskulptur auf den Platz vor dem neuen Kulturzentrum, verweist der Festredner Oberbürgermeister Christian Ude in seiner Rede am 17. Oktober 2012 auf den Siedlungsgrundstein. Doch wo ist er geblieben? Die Pferdeskulptur steht zu diesem Zeitpunkt bereits auf einem neuen Sockel, der alte war mitsamt Grundstein und Zeitkapsel entsorgt worden. Somit hatte das Hasenbergl seine Zeitkapsel samt Inhalt verloren.

Ausgangspunkt

Diesen »Mangel« begreift das Projekt Zeitkapsel Hasenbergl als Chance. Die zur Zeit der Gründung vorgebrachten Zukunftsvisionen haben sich nicht erfüllt. Vor allem hat das »Image« des Hasenbergls einen ungeplanten Verlauf genommen, der nun durch eine Wiederholung der Grundsteinlegung korrigiert werden soll. Dazu wird eine neue Zeitkapsel von den Hasenberglern selbst mit neuen Inhalten gefüllt. Und diese werden im Verlauf des Projekts öffentlich geteilt und vorgestellt. Die Bewohner*innen können so ihr Selbstverständnis auf eine verbesserte Grundlage stellen.

Zeitbot*innen

Das Projekt Zeitkapsel Hasenbergl konnte 70 Bewohner*innen dafür gewinnen, mit einem bestimmten Ereignis aus ihrer selbst erlebten Geschichte am Hasenbergl als Zeitbot*in aufzutreten. Sie wählten dazu ein Ereignis aus, das sie stark berührt hat oder das ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist. Diese Geschichten wurden auch auf Video festgehalten. Die Filmclips werden dauerhaft hier auf der Projektwebsite abrufbar sein:
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Außerdem erhielten die Zeitbot*innen ein individuelles T-Shirt. Auf der Vorderseite steht das Datum des von ihnen ausgewählten Ereignisses in silberner Schrift (drei Varianten standen zur Auswahl: Tagesangabe »25.05.1960«, Monatsangabe »Jan. 1970« oder Zeitraum »1988 – 2013«). Die Datumsangabe auf einem T-Shirt sollte durch ihr ungewöhnliches Erscheinungsbild neugierig machen und zwischen den Zeitbot*innen eine sichtbare Verbindung herstellen.


Aus dem Aufruf zur Teilnahme am Projekt:
»Je öfter Sie Ihr T-Shirt tragen, desto besser. Und wenn Sie angesprochen werden, können Sie erzählen, welches Ereignis Sie als Zeitbot*in überbringen. Auf diese Weise schmuggeln Sie zusammen mit den anderen Zeitbot*innen ein neues Stück Geschichte des Hasenbergls in den öffentlichen Raum Ihres Stadtteils. Sie erregen damit Aufmerksamkeit und stärken das Selbstbewusstsein für diesen Ort, an dem Sie leben oder arbeiten und mit dem Sie etwas Bestimmtes verbindet. Und Sie verbreiten überdies das kollektive Gedächtnis dieser Stadtrandsiedlung auch in andere Teile Münchens. So werden – auch durch die Berichterstattung in den Medien – die Bewohner*innen der ganzen Stadt potentiell auf die stolzen Träger*innen ihrer Stadtteil-Geschichte aufmerksam. Auf diese Weise kann schließlich auch eine andere Geschichte des Hasenbergls als die der üblichen Klischees in das Bewusstsein der Münchner*innen gelangen.«
 

Zielsetzung

Ereignisse, die in offiziellen Darstellungen eher ausgeblendet werden, können auf diese Weise ausgetauscht und öffentlich präsentiert werden und ermöglichen eine neue Sichtweise auf das Stadtviertel Hasenbergl. So entsteht – mit breiter Beteiligung – eine alternative Darstellung des Lebens in dieser Großsiedlung am Stadtrand Münchens, die in den ersten 56 Jahren ihres Bestehens (1960 – 2016) eine wechselvolle Geschichte durchlaufen hat.

Auftritte der Zeitbot*innen

Es wurden Veranstaltungen durchgeführt, bei denen jeweils eine Gruppe von interessierten Zeitbot*innen eingeladen war, »ihre« Ereignisse öffentlich vorzustellen. Die Auftritte fanden an verschiedenen Orten statt, auch um Schritt für Schritt weitere Bewohner*innen des Hasenbergls zu erreichen und zum Mitmachen einzuladen.

• Projektstart: Im Kulturzentrum 2411, Stadtteilkultur, wurde am 14. April 2016 die Zeitkapsel Hasenbergl gestartet. Der Stadtteilhistoriker Klaus Mai gab einen Einblick in die Geschichte des Hasenbergls. Danach führte Pia Lanzinger in das Projekt ein und erläuterte die verschiedenen Etappen bis zur neuen Zeitkapsel. Anschließend stellten sich die ersten drei Zeitbot*innen aus unterschiedlichen Generationen vor und erzählten dem Publikum ihre Geschichten.

• Auftritt bei den Kulturtagen: Auf den Kulturtagen am 16. Juli 2016 hatten die Bewohner*innen des Hasenbergls die Gelegenheit, Zeitbot*innen live und musikalisch umrahmt auf der Bühne zu erleben.

• Eine Zeitreise durch das Hasenbergl: Auf eine außergewöhnliche Entdeckungstour konnten sich Interessierte am 27. Juli 2017 begeben. Mehrere Zeitbot*innen führten an die Orte, die mit ihren erzählten Erinnerungen in besonders enger Verbindung stehen. Auf diese Weise durchquerten die Teilnehmer*innen wie in einer Zeitmaschine verschiedene Epochen des Stadtteils und konnten hören, was sich dort einmal zugetragen hat.

Eine neue Zeitkapsel

Nachdem 70 Zeitbot*innen gewonnen werden konnten, wurde dem Hasenbergl eine neue Zeitkapsel übergeben. Die gesammelten Geschichten fanden darin ihren Platz. In einem feierlichen Akt wurde die neue Zeitkapsel schließlich am 19. Oktober 2017 im neuen Sockel der Pferdeskulptur dauerhaft verwahrt. Als Ehrengast nahm Alt-Oberbürgermeister Hans‑Jochen Vogel an der Übergabe teil.

Auftritt in den Münchner Kammerspielen

Die Zeitbot*innen des Projekts Zeitkapsel Hasenbergl kamen am 26. Oktober 2017 auf die Bühne im Zentrum der Stadt und gaben eine inszenierte Zusammenfassung, bei der vor allem das Leben der Bewohner*innen selbst im Mittelpunkt stand. Eine Runde von Expert*innen mit Bezügen zu vergleichbaren Entwicklungen in anderen Städten bildete eine Art Kontrapunkt.


Das Hasenbergl wurde als erste Großsiedlung der Nachkriegsmoderne am Stadtrand Münchens von 1960 bis 1964 nach ambitionierten städtebaulichen Ideen realisiert: eine geplante Modellstadt mit viel Grün, gut ausgestatteten Wohnungen und diversen kleineren Einkaufszentren. Man konzipierte eine »Schlafstadt« im Grünen, die sich an den klassischen Geschlechterrollen orientierte. Die Sozialwohnungen für 18.000 Menschen wurden von gemeinnützigen Gesellschaften für Familien mit geringem Einkommen errichtet und sollten die Wohnungsnot lindern. Ein erheblicher Teil der Wohnungen war für deutsche Flüchtlinge vorgesehen. Der Stadtteil sollte den Ansprüchen an modernes Wohnen gerecht werden und die Wohnstandards mit eigenem Bad und Zentralheizung auf ein neues Niveau heben. Kritik gab es bald an infrastrukturellen Defiziten, geringem Freizeitwert und einem mangelnden Versorgungsangebot. Die ausschließliche Belegung mit sozial schwächer gestellten Mieter*innen führte zu Vorurteilen von außen und trug zusammen mit dem negativen Image des »Obdachlosenlagers« Frauenholz zur Stigmatisierung bei. Im Laufe der Zeit wurde die Bewohnerschaft des Hasenbergls, die anfangs überwiegend aus jungen Familien bestand, älter. Durch den Wegzug Jüngerer verstärkte sich dieser Trend. Gleichzeitig stieg der Anteil der Migrant*innen kontinuierlich, was schließlich dem traditionell roten Arbeiterviertel einen deutlichen Rechtsruck und die Zuschreibung als »Republikaner- Hochburg« einbrachte. Sogar die Behauptung von Ghettobildung stand im Raum. Demgegenüber zeigt aber die heutige Situation mit ihren einfallsreichen Formen kulturellen und sozialen Engagements ein deutlich anderes Gesicht. Nicht zuletzt tragen dazu auch die städtebaulichen Vorzüge des Viertels bei.
 


Das Lager Frauenholz befand sich nördlich der ab 1960 errichteten Großsiedlung Hasenbergl. 1937 wurden dort Wohnbaracken für die Fliegertechnische Schule des Militärflugplatzes Schleißheim errichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte man dort dann »Displaced Persons«, ehemalige Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge oder Angehörige der Russischen Armee, unter, weswegen es von der Münchner Bevölkerung als »Russenlager« bezeichnet wurde. Es galt jetzt als die größte Schwarzhandelszentrale Deutschlands. 1953 erwarb die Stadt München das geräumte Lager und ließ es instand setzen. Das »Städtische Wohnlager Frauenholz« wurde nun als Unterkunft für obdachlose Münchner*innen genutzt. In den 75 Holzbaracken lebten bis zu 4.000 Menschen, womit es das größte »Obdachlosenlager« in der Bundesrepublik war. 1964 wurde es aufgelöst, Unterkunftsanlagen in »Schlichtbauweise« errichtet und in »Hasenbergl-Nord« umbenannt. Die dort lebenden Menschen waren als kriminell und asozial verrufen, und so nahm der schlechte Ruf des Lagers Frauenholz schon vor Baubeginn des Hasenbergls Einfluss auf dessen Image. Dies war auch den Architekten der Großsiedlung bewusst, die, um die Großsiedlung dagegen abzuschirmen, an ihrem Nordrand eine architektonische »Schranke« aus markanten Wohnhäusern errichteten.
 

Bisherige Projekte von Pia Lanzinger

Seit 20 Jahren führt die in Berlin lebende Künstlerin Projekte an unterschiedlichen Orten durch. Regelmäßig beschäftigt sie sich dabei mit besonderen Stadträumen und Wohnarchitekturen. Bei nahezu allen Arbeiten bilden Recherchen und Kollaborationen mit Akteur*innen vor Ort einen entscheidenden Faktor. In der Messestadt Riem realisierte Pia Lanzinger 2001 das Projekt So wohnen wir. Mit einer eigenen Wohnzeitschrift und »Wohnwanderungen« wurden der Pioniergeist und der offene Austausch zwischen den ersten Bewohner*innen nicht nur begleitet und öffentlich dokumentiert, sondern auch unterstützt. In Mexiko‑Stadt inszenierte sie 2010 Tres piezas para barrenderos die (Selbst-)Darstellung einer Gruppe von Barrenderos (Straßenkehrer* innen) mit mehreren Auftritten im öffentlichen Raum. Die Stücke thematisierten die Müllproblematik dieser Stadt und die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Barrenderos. Im Sommer 2014 realisierte sie Würfeln um Berlin. Das Gentrifizierungsspiel – ein überdimensionales Brettspiel, das in verschiedenen Kiezen Berlins mit Passant*innen gespielt wurde. In einer Hafenstadt in Westaustralien gab Pia Lanzinger mit Geraldton goes Wajarri (2014/15) einer vom Aussterben bedrohten Aboriginal-Sprache ein Forum.

www.pialanzinger.de
www.geraldton-goes-wajarri.org
www.lesestoff-barfussbereich.de

Die Künstlerin während ihrer Kindheit am Hasenbergl